Sozialgerichte bestätigen Versorgungsanspruch mit Therapiedreirad auch bei Kindern mit geistiger Behinderung

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Menschen mit einer Gehbehinderung haben gegenüber ihrer gesetzlichen Krankenversicherung einen Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, welche das Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums ermöglichen. Dies umfasst die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden örtlichen Nahbereich. Anknüpfungspunkt für die Reichweite des Nahbereichs ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt, um Alltagsbesorgungen durchzuführen.

Bei Kindern und Jugendlichen gilt seit langem ein abweichender Maßstab. Bereits 2002 stellte das Bundessozialgericht klar, dass hier zur Integration von Kindern und Jugendlichen auf den sogenannten erweiterten Nahbereich abgestellt werden muss. Durch die Hilfsmittelversorgung zu ermöglichen ist nicht die Mobilität eines Fußgängers, sondern vielmehr die Mobilität eines Fahrradfahrers. Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. Er setzt nicht voraus, dass das begehrte Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar ist, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Denn der Integrationsprozess ist ein multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden können. Es reicht deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert wird (BSG, Urteil v. 23. 7. 2002 – B 3 KR 3/02 R).

Hieran anknüpfend wird von Krankenkassen immer wieder der Einwand vorgebracht, dass bei Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und geistiger Behinderung ein solcher Integrationsprozess nicht möglich sei, da diese zumindest auf die Hintergrundbeaufsichtigung ihrer Eltern oder anderer Aufsichtspersonen angewiesen seien. Und diese Hintergrundbeaufsichtigung mache eine Integration in den Kreis gleichaltriger Kinder unmöglich, so die Kostenträger.

Sowohl das Sozialgericht Dortmund (Urteil vom 25.5.2021 – S 48 KR 4866/18) als auch das Sozialgericht Hamburg (Urteil vom 25.1.2022 – S 50 KR 1112/19) stellten nunmehr klar, dass eine Hintergrundbeaufsichtigung unschädlich sei und dass auch geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche Anspruch auf die Versorgung mit einem Therapiedreirad haben können. Eine abweichende Auffassung werde dem Sinn und Zweck der Hilfsmittelversorgung zum Behinderungsausgleich nicht gerecht.

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